Chinesische Neujahrsbräuche
Auch im heutigen China ist das Neujahrsfest das größte aller Feste. Allerdings nennt man es jetzt, etwas irreführend, meist Frühlingsfest. Im Westen ist es als Chinesisches Mondneujahr bekannt, womit schon zum Ausdruck gebracht wird, dass es in unserem Kalender keinen festen Platz hat, sondern sich nach den Mondphasen richtet, ähnlich unserem Oster- oder Pfingstfest. Auch den anderen Jahresfesten liegt der Mondkalender zugrunde, obwohl China seit zumindest zwei Jahrtausenden über einen Kalender verfügt, in den auch Solarzyklen, 24 mal 15 Tage, aufgenommen sind. Damit fand das Sonnenjahr weitgehende Berücksichtigung. Ganz abgesehen davon hat in China heute – nach probeweiser Einführung im Jahre 1911 – der Gregorianische Kalender offizielle Gültigkeit. So feiern die Chinesen also zweimal jährlich Neujahr.
In der Familie zählt aber nur das traditionelle Neujahrsfest, das nach unserem Kalender in die Zeit zwischen dem 21. Januar und 19. Februar fällt. Vor dem Fest geht es in China ähnlich zu wie bei uns vor Weihnachten: Geschenke müssen besorgt, Einkäufe für das Festessen getätigt werden, und es wird gekocht, gebraten und geputzt. Auch in anderer Hinsicht ähneln die beiden Feste einander: Wirkliche Atmosphäre, verwurzelte Bräuche findet man in der Stadt immer seltener. Auf dem Lande hingegen ist alles noch viel ursprünglicher und nach wie vor mit viel Aberglauben verbunden. Wo aber die Grenze ziehen? Was ist Aberglaube, was Volksbrauch? Oder ist es einfach nur ein großer Spaß, um dessen einstmals tieferen Sinn man sich heute nicht mehr kümmert?
Zu den jahrhundertealten Bräuchen, die den Chinesen noch immer großes Vergnügen bereiten, zählen die Stelzengeher. Vielerorts gehören sie einfach – weithin sichtbar – zu Neujahr zum bunten Treiben auf den Straßen.
Eine andere, ebenso beliebte Art der Volksbelustigung sind die sogenannten Trockenbootrennen, die unverändert ein großes Publikum anziehen. Dazu kostümieren und schminken sich junge Burschen nach Art traditioneller Schönheiten, während andere sich als alte Männer verkleiden, die das Boot mit der Schönen „rudern“. Dieses „Boot“ wird aus Weidenruten gefertigt, mit Stoff verkleidet und wie ein Reifrock angezogen. „Mädchen“ und Ruderer unterhalten dann das Publikum mit einem Wechselgesang witzigen, manchmal vielleicht auch etwas derben Inhalts, wenn man Berichten sich indigniert gebender Chronisten der höheren Schichten Glauben schenken darf.
Andere Bräuche erinnern stark an das Perchten- oder Schemenlaufen in der Alpenregion. Im Grunde bedeuten sie auch dasselbe: Austreiben von Dämonen und Herbeirufen guter Geister. Über einen solchen Umzug im Jahre 1829 berichtet ein europäischer Augenzeuge aus dem nordchinesischen Grenzgebiet. Er beobachtete, wie ein langer Zug maskierter Gestalten sich zum Haus des ranghöchsten Beamten der Stadt bewegte und dort einen Höllenspektakel aufführte. Die Gesichter waren verschiedenfarbig geschminkt, manche Männer hatten Bärte umgehängt oder auch aufgemalt oder trugen Perücken und hatten sich als Frauen verkleidet. Der Zug bewegte sich weiter zum Tempel, hier wurden dann Opfer vom Fleisch verschiedener Tiere dargebracht. – Ähnliches berichtet ein halbes Jahrhundert später ein chinesischer Chronist aus Shanghai.
Ein anderer Brauch ist uns so vertraut, dass wir nicht unbedingt an seinen chinesischen Ursprung denken: das Neujahrsfeuerwerk. In China soll man zunächst Bambussegmente ins Feuer geworfen und damit besondere Knalleffekte erzielt haben. Ein weiterer Effekt lag in der Doppeldeutigkeit des Wortes: Zhu bedeutet nicht nur Bambus, sondern in anderer Schreibung auch wünschen, und so kann man auf Wunschbildern oft Bambus wie auch Bambusknallkörper sehen. Nach Erfindung des Papiers gab man Pulver in Papierhülsen; auf Schnüre gefädelt, ergaben diese das bianpao – Peitschenfeuerwerk-, das man heute, vor allem im Süden, gern bei Hochzeiten in die Bäume hängt und abbrennt. Apropos Hochzeiten: fast ist es zum Brauch geworden, zu Neujahr zu heiraten – man hat mehr freie Tage, überall herrscht Feststimmung. Nur an Schlaf ist nicht zu denken! Denn zum Lärm der Feuerwerkskörper kommen noch die Trommeln und Gongs, welche die halbe Nacht geschlagen werden. All dies dient dem Zweck, die schreckhaften bösen Geister zu vertreiben. Denselben Ursprung hatten Drachen- und Löwentänze, die mittlerweile auch im Ausland bekannt geworden sind.
Die kleinen Gestalten auf dem umseitigen Bild sind, so wie vorher die Stelzengeher, aus Eselshaut geschnitten und entstammen dem reizvollen chinesischen Schattentheater.
Heute feiert man in China das neue Jahr mindestens drei Tage lang, früher waren es Wochen. In alter Zeit begannen die Vorbereitungen zum Fest am la-ba-jie, am 8. des letzten Monats des Jahres. Zur Zeit der Südlichen Song-Dynastie (420-479) begann in Hangzhou am la-ba-jie bereits der Verkauf von Neujahrsartikeln. Mit der Verbreitung des Buddhismus in China verknüpfte man dann mit diesem Tag das Fest der Ankunft Buddhas. Alle Buddha-Statuen in den Tempeln wurden gesäubert, womit man hoffte, gleichzeitig Übel und Krankheit wegzuwaschen. Diese Feiern gibt es schon lange nicht mehr. Auch die Ämter können es sich heute nicht mehr leisten, ihre Pforten für ganze vier Wochen zu schließen – sicher sehr zum Bedauern manch eines Angestellten. Hingegen wird das Verschwinden eines anderen Brauches kaum Bedauern auslösen, eines Brauches, durch den früher für viele das Herannahen des neuen Jahres mit Angst und Schrecken verbunden war. Durch den Zwang, vor dem Jahresende alle Schulden begleichen zu müssen, brach für unzählige Arme eine Zeit der Verzweiflung an, und der Ausweg hieß nur zu oft Flucht oder Selbstmord. Wohl wird man auch heute trachten, seine finanziellen Angelegenheiten vor Neujahr in Ordnung zu bringen, aber verzweifeln muss niemand mehr.
Für diesen Tag leistet sich jeder besonders gute Speisen, auch neue Kleider. Man schenkt und empfängt Geschenke. Vor allem für die Kinder ist deshalb dieses Fest mit besonderen Erwartungen verknüpft.
Wie eingangs erwähnt, finden sich manche Bräuche mehr auf dem Lande als in der Stadt. Überall aber findet man die duilian oder chunlian, die, mit dem Pinsel schön auf rotes Papier geschrieben, zu Neujahr beidseitig der Tür angebracht werden und im völligen Wortparallelismus Gutes und Erbauliches für das neue Jahr beinhalten. In ganz China werden in den letzten Tagen des alten Jahres Verkaufsstände errichtet, welche diese roten Streifen neben anderen Artikeln wie Glücksgeld, Scherenschnitten und natürlich Neujahrsbildern anbieten.
Die ältesten Neujahrsbilder – die Türgötter – erfreuen sich noch immer großer Beliebtheit. Zu ihnen sind später viele andere Motive gekommen. Aber wie sich die Darstellungen auch im Laufe der Zeit gewandelt haben mögen, immer sollten sie den Wunsch der Menschen nach Ruhe, Frieden, Wohlstand und Wohlergehen zum Ausdruck bringen. Eine ihrer Hauptfunktionen war das Vertreiben von Dämonen – diese waren zu Neujahr besonders gefährlich -, eine andere, die guten Geister herbeizurufen. Von beiden gab es in China Legionen. Mit dem chinesischen Sinn für Ordnung wurden diese himmlischen (oder höllischen) Heerscharen in eine Art Verwaltungsapparat eingegliedert, der dem irdischen nicht unähnlich war. Da gab es eine Vielzahl von Ministerien, Ämtern, Abteilungen und Unterabteilungen, und es war durchaus möglich, in der Hierarchie aufzusteigen oder in eine ganz andere Abteilung versetzt – vielleicht strafversetzt – zu werden. Zum andern ähnelte dieser himmlische Apparat seinem irdischen Gegenstück auch darin, dass er sich fortwährend vergrößerte. So konnten Sterbliche durch spezielle Fähigkeiten oder Leistungen Unsterblichkeit erlangen. Als Beispiel mag Guan Yu dienen. Er war ein berühmter General zur Zeit der Drei Reiche (220-280) und gelangte später als rotgesichtiger Kriegsgott Guan Di ganz hoch hinauf in der Götterhierarchie.
Himmelfahrt des Herdgottes
Der Herdgott (Zaowangye) ist einer der ältesten Schutzgötter der chinesischen Gehöfte. Seine Bedeutung für die Hausbewohner stieg ständig, bis er sich zum Ende der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) zum Chef aller anderen häuslichen Schutzgeister emporgeschwungen hatte. Seine Überwachung der Haushalte machte nicht vor dem des Kaisers halt. Im Palast der Irdischen Ruhe der Verbotenen Stadt stand sein Altar und der Große Kaiser Qian Long pflegte am 23. Tag des 12. Mondmonats wie alle anderen Familienväter persönliche mit Handtrommel und Gesang den Herdgott in den Himmel zu geleiten. Vielleicht hatte er, der Himmelssohn, weniger die Berichterstattung des Herdgottes beim Jadekaiser zu fürchten.
In den Haushalten der einfachen Leute versucht man gelegentlich, ungünstigen Erzählungen des Herdgottes über das Betragen der Familie im abgelaufenen Jahr dadurch vorzubeugen, indem man ihm vor seiner Himmelfahrt süßes Mus oder Honig auf seine Lippen streicht, auf dass seine Worte beim himmlischen Jadekaiser süß ausfallen mögen.
Auch in den reich gewordenen bäuerlichen Haushalten hat sich der Herdgott seinen Platz sichern können. Da für die Chinesen das Ledigsein stets ein unnatürlicher Zustand gewesen ist, gesellt man dem Herdgott auf dem Bild, das über die Feuerstelle geklebt wird – fast immer ein Holzschnitt –, eine Frau hinzu. Dazu kommt noch ein Gefolge anderer Götter und Schutzgeister, welches Glück, Reichtum, langes Leben und Abwehr von Gefahren bewirken soll.
Vor dem Neujahr wird geschlachtet, das opulente Neujahrsmahl vorbereitet und das ganze Haus gefegt, weil übriggebliebender Staub im neuen Jahre Unheil bringt. Bevor der Herdgott eine Woche vor Neujahr durch Verbrennen seines Bildes in den Himmel geschickt wird, werden ihm Opfer dargebracht. So wie der Nikolaus bei uns ist der Herdgott eine pädagogische Figur und wie bei uns da und dort die Kinder des Pferdes des Nikolos gedenken und ihm Heu ins Fenster legen, bemühen sich die kleinen Chinesen, das Pferd, mit dem der Gott in den Himmel reitet, zu versorgen. Gras und Wasser stehen bereit und manchmal werden auch Bohnen aufs Dach geworfen, deren Herabkollern den Hufschlag des Pferdes bei der Himmelfahrt nachahmen soll. Am letzten Tag des Jahres kommt der Herdgott zurück, sein neues Bild wird aufgeklebt und er wird durch ein Opfer willkommen geheißen.
Einer Legende nach ist der Herdgott früher ein Sterblicher gewesen, der eine treue Frau verstoßen hatte. Als er arm und blind, unwissend wo er sich befand, bei ihr um Essen bettelte, erhielt er reichlich, erzählte seine Lebensgeschichte, wurde wieder sehend und sprang vor Scham in den Herd, der zu seinem Unglück angeheizt war. Die treue Frau trauerte um ihn, brachte ihm am Herd Opfer dar und so wurde aus ihm im Lauf der Zeit der Herdgott.